Altbundeskanzler Helmut Schmidt wird das Bonmot zugeschrieben: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Tatsächlich bauen heute ganze Wirtschaftszweige auf Visionen. Das nennt man Marketing. Die Zeitschriften-Branche zum Beispiel visioniert ständig neue Zielgruppen an, für die dann entsprechend neue Magazine „entwickelt“ werden. Wenn sich herausstellt, dass es diese Zielgruppe doch nicht gibt, dann wird das Magazin eben wieder eingestellt. Was soll’s, dumm gelaufen.
Neue Zielgruppen zu visionieren, ist aber nicht ganz einfach. Denn im Grunde suchen die Verlage ja doch immer dieselben Leser: Jung sollen sie sein, gebildet und natürlich stets: konsumfreudig. Die Zielgruppe soll ja auch den Werbern gefallen. Und hier kommt Matthias Horx in Spiel.
Horx ist Trendforscher, also einer, der heute schon weiß, was morgen in ist. Mit seinen Visionen muss Horx nicht zum Arzt, sondern er dreht sie Anzugträgern wie den Ideen-Olympiern von Gruner+Jahr an. Dort hat man schon seit über einem Jahr eine Frauenzeitschrift namens emotion im Portfolio, die nicht mal mehr neu erfunden werden musste: Das Konzept, irgendwo zwischen Brigitte und Psychologie heute, mochten bereits die französischen Madames.
Offenbar weckt emotion aber noch nicht die gewünschten Emotionen auf dem deutschen Markt (in der IVW-Auflagenzählung taucht der Titel bisher gar nicht auf). Da muss Matthias Horx ran. Er hat für Gruner+Jahr Zielgruppenforschung betrieben: Resultat ist die jüngst in Berlin vorgestellte große emotion-Trendstudie, die einen – natürlich völlig neuen – Leserinnentyp ausfindig gemacht hat. Meine Damen und Herren, Vorhang auf für die „Glücksstrateginnen“! Lebensmotto: „Emotional intelligente Frauen erobern sich die Welt!“
Halleluja, da fragt man sich neidisch, wie kommt der Horx immer wieder auf solche aalglatten Ideen? Nach aufwändiger Exegese sind die Experten vom Privatstrandblog zu einem Ergebnis gekommen: regelmäßiger Medienkonsum ist völlig ausreichend, um Horx‘ Visionen zu erklären. Auch Bücher aus Kinderzeiten mal wieder in die Hand zu nehmen, lohnt sich gewiss.
Ein Beispiel: Horx muss sich den Namen von Astrid Lindgrens Romanheldin Pippi Langstrumpf geschnappt und ihn mit der Seifenoper „Lotta in love“ aus glücklicheren Sat.1-Zeiten gekreuzt haben. Hinten noch das Attribut „deluxe“ angehängt – so hießen früher die Modellvarianten französischer Automobile, heutzutage auch Kinderwagen oder Käsereiben -, und fertig ist die „Pippilotta deluxe“-Frau. Lebensmotto: „Alles können, nichts müssen. Ich mach die Welt, wie sie mir gefällt!“
Auf diese Weise, widde-widde-witt, hat Horx noch drei weitere trendstarke Frauen-Typologien erfunden: die Self-Designerin („Sie managet sich ihr Lebensglück“), die Sterntalerin („Optimismus ist ihre Glücksstrategie“) und die Glücks-Diana („jagt ihrem Glück unverdrossen nach“). Weitere Einzelheiten erparen wir uns hier. Wichtiger ist – und jetzt wird’s ernst -, dass es vielleicht schon bald Leserinnen geben wird, die sich tatsächlich als „Pippilotta Deluxe“ neu erfinden wollen die glauben, unter Anleitung von Gruner+Jahr dem täglichen Familienterror als „Self-Designerin“ mit neuem Mut die Stirn bieten zu können. Frauen also, die sich nach dem Marketing-Bild modellieren, zumal Horx mit Vorzeige-Frauen wie Silvana Koch-Mehrin oder Charlotte Roche lebende Vorbilder für seine Typologien propagiert.
„Männer bekommen, was ihnen Spaß macht: Autohefte, Fußballhefte, Angelhefte. Frauen bekommen Magazine, die sie zur Nabelschau zwingen. Und die ihnen dann in mehr oder weniger eng geschnürtem Lifestyle-Korsett Anleitungen geben, damit sie gute Hausfrauen, Ehefrauen, Kolleginnen und Mütter werden, noch attraktiver, klüger, dünner und emotional intelligenter.“ So beschrieb treffend einmal Katrin Weber-Klüver in der Berliner Zeitung den kleinen Unterschied von Zeitschriften für Frauen und Männer.
Zeitschriften-Lektüre als permanentes Selbstverbesserungsprogramm. Warum tun sich Frauen so etwas an? Warum lassen sie das mit sich machen? Für die Verlage ist diese Projektarbeit am Selbst jedenfalls ein Segen. Wer einmal drin ist im Hamsterrad von emotion, kommt nicht mehr raus. Nicht umsonst gelten Frauen als treue Leserinnen. Läuft’s gut für Gruner+Jahr, dann wird Horx‘ hier und dort zusammengeklaubte und mit Allensbacher Demoskopie abgedichtete Zielgruppen-Vision zur Self fulfilling prophecy, zum feuchten Traum eines jeden Vermarkters: Ich mach mir die Zielgruppe, widde-widde, wie sie mir gefällt.
Und was ist mit den Männern? Magazine wie Men’s Health, Maxim oder GQ bemühen sich zwar nach Kräften um die Restaurierung ihrer Zielgruppe. Verglichen mit den Frauenzeitschriften wirkt dieses Segment aber, tschuldigung, reichlich schlappschwänzig. Sind die Männer also noch zu retten, rein marketingmäßig? Vielleicht. Hilfe naht aus der Pharmaindustrie. Die Pillendreher haben einen neuen Markt entdeckt: Blutdruck-Mittel für junge Männer.
Studien (es gibt immer irgendwelche passenden Studien) haben nämlich zutage gefördert, dass Männer verstärkt unter zu hohem Blutdruck leiden – eine Zivilisationskrankheit. Selbst im Alter,wenn der Blutdruck naturgemäß steigt, gelten inzwischen Zielwerte von 120:80. Geht es nach der Vision der Pharma, sollen schon jüngere Männer ihren Blutdruck „einstellen“. Da müssen wir was machen, sagen Ärzte und Pharma unisono. Der Markt könnte lukrativ sein. Geeignete Medikamente sind vor allem eines: teuer.
„Hunderttausende von künftigen Bluthochdruck-Patienten ahnen noch nichts vom drohenden Gefäßkollaps. Und möglicherweise sind Sie einer davon“, warnt unheilschwanger Men’s Health – und empfiehlt der Zielgruppe als Therapie: Betablocker, Diuretika, Calcium-Antagonisten, ACE-Hemmer, Angiotensin-II-Antagonisten, Alphablocker. Helmut Schmidt hatte also doch recht: Wer Visionen hat, muss zum Arzt.