Der 9. November 1989 war, jedenfalls bei Tageslicht betrachtet, ein ziemlich durchschnittlicher Donnerstag. Selbst am frühen Abend, als Günter Schabowskis verdruckster Pressekonferenz-Auftritt über die Bildschirme flimmerte, wonach die neue Ausreise-Regelung „ab sofort“, ja „unverzüglich“ in Kraft trete, ahnte noch niemand, was in der folgenden Nacht passieren würde. Ich jedenfalls nicht. Ich machte mich auf den Weg nach Kreuzberg. Nur ein paar Straßenzüge von der Mauer entfernt war ich mit P. verabredet, um ein Konzert der Ost-Berliner Punk-Band Feeling B zu besuchen.
P. war ein paar Monate vorher aus der DDR ausgereist. Wir hatten uns 1987 über gemeinsame Bekannte kennengelernt. Seitdem kam ich hin und wieder mal vorbei, wenn ich beruflich oder privat über die Grenze ging. Als West-Berliner mit privatem Tagesvisum musste man spätestens um ein ein Uhr des Folgetages wieder draußen sein (als Bürger der BRD schon um zwölf). P. wohnte zusammen mit einem verkrachten Maler in einem zermürbten Hinterhaus direkt an der Schönhauser Allee. Dort ließ es sich ganz gut leben. Es gab ein Außenklo auf halber Treppe, eine Duschtasse in der Küche und natürlich kein Telefon. Ständig schauten Nachbarn vorbei zum Quatschen und Teetrinken. Unpassend kam man eigentlich nie.
Mitten in der Hauptstadt der DDR: das Unkraut der Subkultur
Das kannte ich aus West-Berlin nicht, und es gefiel mir. Diese DDR im Prenzlauer Berg rund um die Schönhauser erschien mir wie eine entkoppelte, entschleunigte Welt, in der, so schien es, jeder das machte, was er wollte, und niemand das, was er sollte. So groß war die Agonie des Systems, dass mitten in der „Hauptstadt der DDR“ das Unkraut der Subkultur wucherte, als ob die Staatsmacht das Interesse verloren hätte, es zu jäten. Erst später las man dann in den Stasi-Akten, dass in diesem Biotop auch viele „Inoffizielle Mitarbeiter“ gediehen.
Alle waren irgendwie Künstler, arbeiteten als Friedhofsgärtner oder an der Volksbühne, weil man in der DDR einer Arbeit nachgehen musste, um nicht als asozial abgestempelt zu werden. Alle hatten irgendetwas am Laufen. Bei P. war es allerdings nur noch der Ausreiseantrag, der lief – wenngleich schleppend. Die Staatsmacht lud sie immer wieder zu Befragungen vor; zuerst aber musste sie in einer Amtsstube warten, die gepflastert war mit Presseerzeugnissen, in denen die Vorzüge des Lebens in der DDR geschildert wurden im Vergleich zur Klassengesellschaft des Westens.
Überzeugend war diese Abschreckungstaktik nicht. P. blieb bei ihrem Ausreisewunsch, und als sie schließlich raus durfte, landete sie in einer WG an der Skalitzer Straße in Kreuzberg – gar nicht mal weit vom Pike, einem damals ziemlich neuen Club in der Glogauer Straße, wo Feeling B an jenem Abend des 9. Novembers konzertierte. Allein, P. erschien nicht, nicht an diesem Abend, und auch sonst bekam ich sie, kaum dass sie auf meiner Seite der Mauer angekommen war, kaum noch zu Gesicht. Ich ging ohne sie zum Konzert.
Dort herrschte eine seltsame Atmosphäre. Im Publikum sah man lauter bekannte Gesichter, darunter nicht wenige Ex-Ostler, die so wie P. dem abgehalfterten Arbeiter- und Bauernstaat den Rücken gekehrt hatten. 1989 gastierten viele West-Berliner Punk-Bands im Osten, aber stets „undercover“. Das war ein Abenteuer. Umgekehrt spielten Feeling B nicht ihr erstes Konzert im Westen. Im Gegenteil. Die Band hatte ganz offiziell Visa erhalten und zählte damit plötzlich zu den privilegierten „Reisekadern“. Verkehrte Welt.
Ach übrigens, die Mauer ist wohl offen
Die Musiker schepperten und rumpelten sich durch ihren Auftritt, als Sänger Aljoscha Rompe plötzlich eine Ansage machte: Er habe gerade gehört, dass die Mauer offen sei. In meiner Erinnerung erntete diese bahnbrechende Mitteilung, wie nebenher zwischen zwei Stücken fallen gelassen, überhaupt keine Reaktion. Der Kreuzberger Klub Pike war plötzlich vom Mantel der Geschichte umweht, aber niemand wollte nach dem Saum greifen. Drinnen ging es weiter mit dem Konzert, als gäbe es kein Draußen. Und Feeling B spielten den Song, der programmatisch für die Band ist: „Mix mir einen Drink, der mich woanders hin bringt.“
Vielleicht spürte Rompe, der Sänger, der nicht singen konnte, dieses Bonzen-Kind mit Schweizer Pass, das die Käseglocken-DDR wie ein anarchistisches Reservat durchstreifte, schon an diesem Abend, dass jetzt alles anders werden würde. Draußen quollen Abertausende Freude- und sonstwie trunkener DDR-Bürger durch die offene Grenze. Eine Band aus dem Osten, die im Westen spielen durfte, war plötzlich nichts Besonderes mehr; und ein Westler wie ich, der bei seinen Ost-Besuchen von der anderen Seite des „antifaschistischen Schutzwalls“ berichtete, übrigens auch nicht. Wenn die Mauer trotz oder gerade wegen ihrer trennenden Unerbittlichkeit wirklich so etwas wie eine deutsch-deutsche Exotik geschaffen hatte (bei der die Leute im Osten generell viel neugieriger waren auf den Westen als umgekehrt), dann war es nun damit vorbei.
Wie es weiterging, ist bekannt. Helmut Kohl griff nach jenem Mantel der Geschichte und versprach blühende Landschaften. Damit war der Traum einer neuen DDR, den einige Künstler, Bürgerrechtler und Intellektuelle träumten, schnell wieder im „Eimer“ (um den Namen eines vorübergehend als Konzertort bekannten besetzten Hauses an der Schönhauser Allee zu bemühen).
Wer konnte, ließ alles hinter sich. P., die noch das Risiko eines Ausreiseantrages auf sich nehmen musste, obwohl kurz darauf alle raus durften, wanderte aus: weit weg, auf eine Insel, wo es immer warm war. Paul Landers, Flake und der zeitweilige Schlagzeuger Christoph Schneider von Feeling B wurden Weltstars mit Rammstein. Rompe starb im Milleniums-Jahr vereinsamt und asthmatisch in seinem Wohnmobil. Und das Pike überlebte die deutsche Einheit nur ein paar Monate.
Der letzte Hit von Feeling B ging so: „Ich such‘ die DDR, und keiner weiß, wo sie ist. Es ist so schade, dass sie mich so schnell vergisst. Ich such‘ die DDR, und kommt sie zurück zu mir, verzeih‘ ich ihr.“
Beitragsbild: Lear 21 at English Wikipedia [CC BY-SA 3.0]