Der Winter war über Europa hereingebrochen, als Bijelo Dugme am 2. Dezember 2023 zum Konzert nach Berlin kamen. Sarajevo, Sofia, Minhen, überall habe Schnee gelegen, berichtete Bandleader Goran Bregović zu Beginn der Show. Einfach sei die Anreise nicht gewesen, „aber jetzt sind wir da.“ Und zu diesem „wir“ gibt es einiges zu sagen.
Zunächst: Bijelo Dugme, zu Deutsch: weißer Knopf, war nicht irgendeine, sondern schlicht die größte Rock-Band Jugoslawiens, eines Landes, das es bekanntermaßen nicht mehr gibt. Die Band aus der bosnischen Hauptstadt Sarajevo startete in den 70ern ihre eigene, mit Folklore-Elementen grundierte Version des Hard- und Progrocks, die ein hochnäsiger Zagreber Kritiker 1974 beim Erscheinen des Debütalbums als „Hirten-Rock“ bezeichnete. Doch diese Hirten schlugen alle Verkaufsrekorde, produzierten ihre Platten bald in London und lebten Sex and Drugs and Rock ’n‘ Roll in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien aus. Unter dem Einfluss von New Wave und Pop-Kultur musste sich die Band in den Achtzigern renovieren, zerfiel aber noch vor dem Krieg, ehe sie sich nach der Jahrtausendwende noch einmal zu einer Reihe von Reunion-Konzerten zusammenraufte – immer noch mit vollen Stadien, egal ob in Sarajevo, Belgrad oder Zagreb.
Der geschäftstüchtige Weltmusiker Goran Bregovic
Außerhalb des Balkans – selbst wenn dieser nach einem dem österreichischen Staatskanzler Metternich zugeschriebenen Bonmot schon südlich des Rennwegs in Wien (also Beč) beginnt – weiß das freilich kaum ein Mensch. Bekannter als die Band ist hier der Solist Goran Bregović, der mit seinen Filmmusiken (unter anderem für Kusturicas Time of the Gypsies oder auch Mihăileanus Train de Vie) jenseits des Rocks reüssierte und für dessen Oeuvre in den Neunzigern in jedem gut sortierten Plattenladen unter „Weltmusik“ ein eigenes „Balkan“-Fach eingerichtet wurde.
Vor fünfzig Jahren hatte der schmächtige „Brega“ die Band Bijelo Dugme mitgegründet und fortan als Komponist und oft auch Texter durch die vibrierende Musikszene des südslawischen Vielvölker-Staates zu maximalem Erfolg gelenkt; trefflich streiten lässt sich darüber, wer dabei die Oberhand behielt: Der Künstler oder der Biznisman Bregović. Fest steht, dass er seine Musik vielfach recycelte und damit erfolgreich in aller Welt hausierte. So gab es von der Roma-Hymne „Ederlezi“, im Soundtrack von Time of the Gypsies zauberhaft interpretiert von der mazedonischen Sängerin Vaska Jankovska, auch die Rock-Version Đurđevdan, die 1988 auf dem letzten Bijelo-Dugme-Album Ćiribiribela erschien, und Iggy Pops Get The Money aus dem Kusturica-Film Arizona Dream hieß ein paar Jahre zuvor bei den Knöpfen noch Hajdemo u planine.
Wenn nun also Bregović an diesem Berliner Winterabend „jetzt sind wir da“ sagte, dann war dieses „wir“ zuerst einmal ein „ich“. Bregovic himself war da, und er hatte nicht etwa Bijelo Dugme oder überhaupt irgendeine Rockband mitgebracht, sondern wie immer in den letzten Jahren eine Klein-Version seines „Wedding and Funeral Orchestras“ mit sechs Roma-Musikern – fünf Bläsern und einem Paukisten – und zwei bulgarischen Sängerinnen in floraler Tracht. Auf dem Ticket standen aber neben Bregović nur zwei Namen, die das „wir“ an diesem Abend komplettierten: Alen Islamović und Mladen Vojičić Tifa.
Drei begnadete Schreihälse
Dazu muss man wissen, dass der Sound der Band Bijelo Dugme ohne die Klangfarbe ihrer Sänger nicht komplett gewesen wäre. Derer gab es zu Lebzeiten der Band drei, allesamt begnadete Shouter, die ihre gottgegebenen Organe bis zur heisersten Schrei-Lautstärke aufzudrehen vermochten. Ihre Namen konnte jeder jugoslawische Teenager im Schlaf aufsagen: Željko, Tifa und Alen, wobei Željko Bebek, der erste in der Reihe und sicher auch der wichtigste, zugleich die größte Leerstelle des Abends markierte.
Warum er nicht mehr dabei war? Nun, da ging es wohl um alte Wunden, die selbst mit Geld nicht zu heilen waren: Bebek hatte 1984 die Band verlassen, um seine Popularität in eine Solokarriere umzumünzen. Das Zerwürfnis reichte tief. Bregović musste einen neuen Sänger suchen und holte zunächst den jungen Tifa, der dem plötzlichen Ruhm wohl nicht gewachsen war; jedenfalls hielt er nur ein Jahr durch, ehe es Bregović im zweiten Versuch gelang, Alen von der Hard-Rock-Band Divlije Jagode („Wilde Erdbeeren“) abzuwerben.
Im roten Jackett und mit flotter Schiebermütze bedeckelt, bestritt dieser Alen Islamović mit seinem nach wie vor beachtlichen Stimmorgan auch den Großteil des Berliner Konzerts; später kam Tifa noch auf die Bühne, aber er wirkte dort recht verloren. Die Show selbst wurde anfangs vom matschigen Sound in Mitleidenschaft gezogen, stieß jedoch – angetrieben von Bregovićs E-Gitarre und den meist folkigen, manchmal auch funkigen Bläsersätzen der exzellenten Trubači – auf ein dankbares Publikum in der tatsächlich fast vollen Verti Music Hall, einem noch recht neuen, mittelgroßen Konzertsaal mit Platz für bis zu 4500 Zuschauer. Ja, es waren tatsächlich alle gekommen: Rocker, Normalos, Männer mit phantastischen Schnauzbärten, Frauen mit gefährlichen Absätzen, und: junge Leute, die noch nicht einmal geboren waren, als Bijelo Dugme sich auflösten.
Jugo-Nostalgie zum Mitsingen
Was mögen diese Spätgeborenen sich wohl gedacht haben, als gleich zu Konzertbeginn der Song mit dem schönen Titel Noćas je k’o lubenica pun mjesec iznad Bosne („Heute steht der Vollmond wie eine Wassermelone über Bosnien“) erklang? Darin heißt es: „Wir konnten nicht zusammen sein, aber ohne einander ist es auch schwer.“ Dieses „Wir“ kann man natürlich auch im politischen Sinne verstehen, zumal wenn gleich darauf der Titelsong des 1986er Albums Pljuni i zapjevaj moja Jugoslavijo („Spuck aus und sing, mein Jugoslawien“) gespielt wurde? Jedenfalls brauchte Islamović den Refrain nicht selbst zu singen, das übernahm fast die ganze Halle für ihn: „Jugoslawien, auf die Beine, singe, lass Dich hören! Wer das Lied nicht hört, wird den Sturm hören.“
Zwei Stunden lang dauerte das Konzert von Bjelo Dugme, das weder ein Rockkonzert war noch ein Konzert von Bjelo Dugme, denn eine echte Band gibt es nicht mehr. Nach der ersten Zugabe, jenem Đurđevdan, wurden die Bläser und Sängerinnen grußlos von der Bühne geschickt, und Brega, Alen und Tifa klampften und sangen noch die schönsten Rock-Balladen, zum Schluss Ružica si bila, sada više nisi („Ein Röslein warst Du, jetzt bist Du’s nicht mehr“). Wahrlich ungezählt sind die Songs über enttäuschte Liebschaften.
In Zeiten, wo die Rolling Stones noch neue Platten machen, verwaltet Goran Bregović sein längst vergangenes Rock-Erbe, ganz ohne Rock ’n‘ Roll. „Wir haben alte Lieder gespielt, das war schön“, sagte er am Ende des Berliner Konzerts. Noch in den Schlangen an den Ausgängen und Garderoben, bevor es hinaus in die Kälte ging, sangen wartende Menschen lauthals diese alten Lieder.