Der Alleingang mit dem Unity-Desktop hat Ubuntu geschadet, aber dem Ubuntu-Abkömmling Linux Mint einen Popularitäts-Schub eingetragen. Doch das Mint-Projekt baut nicht nur an einem überarbeiteten Ubuntu mit geforktem Gnome 3 statt Unity. Schon vor eineinhalb Jahren rief Hauptentwickler Clement Lefebvre, kurz Clem, zudem die Linux Mint Debian Edition (LMDE) ins Leben. Eine Idee mit Charme: ein stets aktueller Rolling Release, 100 Prozent pure Debian, mit den Annehmlichkeiten des Mint Desktops und speziellen Update-Packs, um die Ecken und Kanten des Debian-Testing-Zweigs auszugleichen. Klingt gut in der Theorie, aber wie schaut die Praxis aus?
In der Ankündigung der Debian Edition nannte „Clem“ gleich mehrere Vorzüge des Debian-Unterbaus: LMDE sei schneller als das Ubuntu-basierte Standard-Mint und weniger abhängig von Upstream-Komponenten, so dass Mint im April 2011 seine XFCE-Ausgabe komplett von Ubuntu auf Debian umsattelte. Doch der Mint-Projektleiter sprach auch eine Mahnung aus: LMDE sei eher für erfahrene Nutzer geeignet und könne häufiger mal abstürzen.
Das liegt in der Natur der Sache. In der Entwicklungslinie von Debian landet Alpha-Software zunächst einmal im Experimental-Repository. Von dort geht es weiter über Unstable zu Testing, bevor die Pakete schließlich bei entsprechender Reife den nur alle paar Jahre aktualisierten Stable-Release erreichen. Pakete in Testing gelten als „ziemlich brauchbar, aber immer noch in Entwicklung“. Für Produktivzwecke wird dagegen vom Debian-Projekt die offizielle, stabile Version empfohlen. Dummerweise ist das stabile Debian aber auch schnell veraltet und schon allein deshalb für Desktop-Nutzer nicht so attraktiv wie beispielsweise Ubuntu.
Bleibt also die Frage: Wie ein auf stets aktualisierter Basis rollendes Debian möglichst stabil machen? Zunächst: In Foren liest man immer wieder von Leuten, die behaupten, bei ihnen laufe Debian Testing schon „seit Jahren“ stabil. Sie lügen vermutlich nicht einmal – sie gehen einfach mit auftretenden Nicklichkeiten routinierter um. Klar, es gibt sogar Distributionen wie Aptosid (früher Sidux) oder den „freundlichen“ Aptosid-Fork Siduction, die nicht einmal davor zurückschrecken, das wilde Debian Unstable a.k.a. Sid als Basis nutzen. Alles ernstzunehmende Projekte mit engagierten Entwicklern und Nutzern. Dennoch: Ich habe selbst eine zeitlang Sidux genutzt – für Leute, die letztlich ihren Computer als Arbeitsgerät nutzen wollen, das einfach so funktioniert, scheint es mir nicht empfehlenswert. Und auch auf das schon „ziemlich brauchbare“ Debian Testing will sich ein solcher User nicht unbedingt verlassen.
Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma Stabilität vs. Aktualität? So sah es aus, als LMDE im August 2011 sogenannte Update-Packs samt spezieller Paketquellen einführte. Sie sollten eine Art Puffer für die ständig einfließenden Aktualisierungen von Debian Testing bieten, auf dass sich LMDE-User nicht mehr mit fehlerhaften Paketen und unerfüllten Abhängigkeiten herumschlagen müssen. Tatsächlich erschienen drei Update-Packs, die ein gefahrloses System-Update ermöglichten. So weit, so gut.
Linux Mint Debian Edition
sources.list für Update Packs
deb http://packages.linuxmint.com/ debian main upstream import
deb http://debian.linuxmint.com/latest testing main contrib non-free
deb http://debian.linuxmint.com/latest/security testing/updates main contrib non-free
deb http://debian.linuxmint.com/latest/multimedia testing main non-free
sources.list für ungefilterte Debian-Quellen
deb http://packages.linuxmint.com/ debian main upstream import
deb http://ftp.de.debian.org/debian/ testing main contrib non-free
deb http://security.debian.org testing/updates main contrib non-free
deb http://www.debian-multimedia.org testing main non-free
Doch seit dem Update Ende September 2011 warten LMDE-Nutzer, die ihre Sources.list auf die Update-Pack-Paketquellen umgestellt haben, vergeblich auf Nachschub. „Clem“ hat die Lieferung eingestellt, solange Debian Testing die Transition von Gnome 2 zu Gnome 3 nicht hinter sich gebracht hat. Seit fast fünf Monaten „rollt“ da gar nichts mehr.
Was interessiert mich Gnome, könnte ich jetzt fragen. Ich habe sowieso in weiser Voraussicht die Xfce-Variante von LMDE installiert. Aber auch Gnome-Nutzer könnten sich wundern: Warum hat das auf Ubuntu basierende Standard-Mint schon Gnome 3, sogar den mit Hochdruck entwickelten Gnome-3-Fork Cinnamon, bekommen, während wir bei LMDE in die Röhre schauen? Offenbar kann ein Projekt wie Mint nicht zwei verschiedene Plattformen gleichzeitig bedienen, und LMDE spielt spürbar die zweite Geige. So findet man denn im Mint-Forum einige Threads, in denen User fragen, ob LMDE nur noch eine „schlafende Distri“ sei.
Ungeduldige Anwender, die immer gerne das Neueste haben wollen, sind das eine. Das andere ist, dass Update-Pack-Nutzer seit fast fünf Monaten auch keine Sicherheits-Fixes mehr bekommen haben, obwohl der Security-Tracker von Debian Testing zahlreiche aktuell geflickte oder noch zu flickende Pakete aufführt. Nun mag ja ein ernster Fehler wie beispielsweise der jüngste Sicherheits-Gau von PHP einen Desktop-Nutzer, der keinen Webserver betreibt, überhaupt nicht tangieren. Anders ist es aber mit Browsern und E-Mail-Clients, den sicherheitskritischsten Anwendungen bei Desktop-Systemen.
Die Sicherheit, die einem das mit einem Schildchen bewehrte Update-Icon samt grünem Haken im Panel vorgaukelt, ist trügerisch. Tatsächlich hat beispielsweise die wachsende Zahl der Chromium-Nutzer keines der zahlreichen Updates der letzten Monate mehr bekommen, mit denen Google auch viele Sicherheits-Lücken stopft. Anfang Januar 2012 wurden wenigstens Updates für Firefox und Thunderbird (LMDE nutzt netterweise nicht Debians umgebrandete Ice*-Pakete) verteilt.
Noch einmal: Es soll hier nicht um Aktualitäts-Fetischismus gehen. Wer Debian etwas länger kennt, weiß ohnehin, dass es nicht immer „rollen“ kann – schon allein deshalb, weil Debian vor Veröffentlichung einer neuen stabilen Version mehrere Monate lang in einen Freeze geht, also auf dem aktuellen Stand eingefroren wird. Freeze bedeutet aber nicht Schockstarre: Bugs werden in dieser Zeit besonders sorgfältig gesucht und vor dem offiziellen Release behoben. Bei LMDE passiert dagegen aktuell gar nichts, und damit ist das Konzept der Update Packs zum Scheitern verurteilt, weil es die Distribution in einer Situation wie der aktuellen potentiell unsicher macht.
Und was sagt „Clem“ dazu? Den Forums-Thread zur „schlafenden Distri“ schloss der Pfefferminz-Prinz kühl mit dem Hinweis, alles laufe wie geplant. Wer wolle, könne ja die Update-Packs wieder abstellen. Schon, aber dann wäre LMDE nichts anderes als ein – zugegebenermaßen hübsch aufpoliertes – Debian Testing: Mit allen Unwägbarkeiten, die eine noch nicht für den Produktiveinsatz gedachte Distribution eben so mit sich bringt. Gerade funktioniert etwa bei mir unter dem neu eingespielten Kernel 3.2.0-1 der nvidia-Treiber nicht mehr. (Die Lösung ist einfach, wenn man sie kennt: dpkg-reconfigure nvidia-kernel-dkms
)
Fazit: Im April, wenn der LTE-Release von Ubuntu erscheint, werde ich LMDE wieder den Rücken kehren und voraussichtlich Xubuntu installieren.
Update 23. Februar: Clem gibt im Mint-Forum bekannt, dass Update Pack 4 im incoming-Repository zum Test bereitsteht, und bittet die Nutzer um Feedback.
Die Frage, die sich mir stellt, lautet: LMDE oder Debian Squeeze ? LMDE sieht sehr verführerisch aus, jedoch kann Squeeze mit seiner Stabilität überzeugen…
Nun, Du musst entscheiden, was Dir wichtiger ist: Stabilität oder verführerische Aktualität.
Stability wins. Bin derzeit noch auf Mint 9 LTS mit XFCE. Werde mir aber bald Debian Squeeze mit Openbox, Tint2 und passenden Keybindings installieren. Stabil, schlank, schnell, schlicht und trotzdem schön ! :)
Ich habe einen Webserver, da läuft Debian Squeeze, und das ist auch gut so. Für den Desktop wär’s mir dann doch wieder etwas zu angestaubt, mit Programm-Versionen, die über ein Jahr alt sind. Das müsste ich dann wieder mit Backports aufzufrischen versuchen – ach nee.
Ich möchte schon einen geschmeidigen, aktuellen Desktop, deswegen klingt der „rolling release“ in der Theorie ja auch ganz gut. Bisschen luxuriöser als Openbox darf’s für mich auch sein. Und deshalb werde ich in der Praxis wohl im April wieder zu (X)Ubuntu zurückkehren, da steckt upstream ja auch Debian drin.
Tja, ich würde ja sogar bei Mint 9 LTS bleiben, bin damit nämlich sehr zufrieden. Aber der LTS ist ja leider auch endlich. Daß ich mit Debian (stable) nicht die allerneueste Software haben werde, damit kann ich gut leben – solange das System dafür dann vollkommen stabil läuft. Außerdem will ich weg von allen *buntu basierten Distros. CrunchBang #! finde ich zwar auch interessant, aber es basiert wie LMDE auf den testing-Repos. Ist also keine Lösung. Dann eben nicht rolling, dafür aber stable – und beizeiten ein apt-get dist-upgrade auf ein neues stable.
… die nicht einmal davor zurückschrecken, das wilde Debian Unstable a.k.a. Sid als Basis nutzen. …
Man kann mit ein „wenig“ Grundwissen und Vorsicht ein sid durchaus recht komfortabel und stabil gestalten. Das ist aber nicht jedermanns Sache und setzt doch einiges an Zeit voraus. Eine der wichtigsten Foren-Lektüren, ob in siduction oder aptosid, sind nun mal die Upgrade-Warnungen. Und da muss dann das Hirn anspringen und laut: „Halt!“ schreien, wenn Transitions im Gange sind oder gravierende Fehler auftreten. Ein gutes und aktuelle Backup soll auch helfen können.
Das ist aber allles andere als das, was man ein Rundum-Sorgenfrei-Glücklich-Pakete nennen wird. Die Chance, dass man von Instabilitäten getroffen wird, ist halt immer da. Wer damit leben kann, der hat ein aktuelles, schickes System. Wem das zu unsicher ist – keine Ahnung, PCLinuxOS soll rollen und sehr stabil sein. Hab ich zumindest gehört. Vorteil: Es ist kein debian. Nachteil: Es ist kein debian.
Volle Zustimmung. Danke auch für die Einschränkung „Das ist aber nicht jedermanns Sache …“ und die Gänsefüsschen bei „ein ‚wenig‘ Grundwissen“. Es gibt nämlich auch sid-Anhänger, die fordern von jedem Linuxer Blut, Schweiß und Tränen. Jene Mitmenschen, die geradezu beleidigt reagieren, wenn Ihnen jemand sagt, dass er ein Linux will, das einfach nur funktioniert.
Und noch was: Ich war kurz davor, zu Siduction überzulaufen, auch wenn das wieder wie früher bei Sidux mehr Frickelei bedeutet hätte. Einfach weil ich das Projekt sympathisch fand. Letztlich habe ich es nicht gemacht, weil die Live-CD auf mich zwar „aktuell“, aber eben nicht „schick“ wirkte.
Klar, das ist auch Geschmackssache. Aber vllt. können wir uns darauf einigen, dass sowohl Mint als auch Ubuntu vom Design her mehr aus einem Guss sind – von den Icon-Themes bis hin zum Font Rendering.
Ich habe seit 11/2012 Mint-Debian installiert.Es ist schnell und stabil.
Ob es immer aktuell ist ,ist doch nicht so wichtig,wenn alles ordentlich läuft und es schnell ist
wer es aktuell haben möchte macht netrunner drauf, wer stabilität mag bleibt bei lmde !!!!!!
Netrunner kannte ich nicht. Basiert aber laut Distrowatch auf Kubuntu; offenbar haben sie auch einen „rolling release“, der basiert aber auf Arch/Manjaro, nicht Debian.
Dieser Blog-Beitrag hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel, und ich habe das Interesse an LMDE verloren, seit sie den Rückzug in den sicheren Hafen von Debian Stable angetreten haben. LMDE ist halt nur ein Stiefkind von Mint.
Leider hat auch SolydXK, in gewisser Weise eine Abspaltung von LMDE, die Testing-Plattform aufgeben müssen. Wer eine Distribution sucht, die der ursprünglichen Idee von LMDE entspricht, ein rollendes Debian Testing zu bieten, müsste sich wohl eher Sparkylinux oder Makululinux anschauen.
Ach ihr Helden.
Erstens entscheidet Shuttleworth mit Gates Neurose nicht mehr so sehr in Linux Manier und was die Ueer wollen. Zweitens gibt/gab er selbst Linux keine all zu große Zukunft mehr – auf viele Jahre bezogen – und könnte sich daher schnell aus Ubuntu zurückziehen, wie er es schon wollte.
Daher: Linux Mint Debian Edition
Mal abgesehen davon, dass Mint scheinbar doppelt so viel Nutzer hat wie Ubuntu. Mint muss also einen eigenen Weg einplanen und MUSS sich direkt mit Debian auseinandersetzen.
Clem macht alles richtig.