Linux Deepin vs. Cinnamon – Versöhnung oder Spaltung mit der Gnome Shell

ScreenshotWas macht der Gnome-Desktop-Nutzer, wenn sein angestammtes Gnome 2 auf dem Software-Friedhof entsorgt wird und die angeblich schönen neuen Welten von Gnome 3 oder Ubuntus Unity nur Unmut erzeugen? Linux Mint, für viele Nutzer inzwischen das bessere Ubuntu, beantwortet diese Gretchen-Frage in gleich zwei Geschmacksrichtungen: Die Retro-Lösung Mate, ein konservatorischer Fork von Gnome 2, und Cinnamon, ebenfalls ein Fork, aber vom neuen Gnome 3. Zukunftsträchtiger erscheint die Zimt-Variante. Nur: Warum muss es unbedingt ein Fork sein? Anders als Ubuntus vernagelter Unity-Desktop lässt sich die Gnome Shell über eine wachsende Zahl von Extensions anpassen. Das macht sich die chinesische Distribution Linux Deepin (Desktop-Screenshot) zunutze und legt ein schon fast ausgereiftes Nutzung-Konzept für Gnome 3 vor.

Ein gutes Dutzend Gnome-Shell-Extensions hat Deepin, wie Mint ein Ubuntu-Derivat, nach der frischen Installation aktiviert – mehrere davon selbst programmiert. Die wichtigste dürfte die Deepin Enhanced Dock Extension sein – sie zaubert das von Leuten wie mir schmerzlich vermisste Dock wieder oben ins Panel zurück. Beim Original-Gnome-3 bekommt der User das Dock erst nach einem Druck auf die Super-Taste oder – schlimmer noch – einer langen Maus-Schieberei in die linke obere Ecke des Bildschirms zu sehen.

Das Deepin-Dock bietet aber mehr als ein normaler Launcher: Programme lassen sich anheften und wieder ablösen. Beim Überfahren eines Icons mit dem Cursor erhält man eine Miniatur-Vorschau bereits geöffneter Programm-Fenster. All dies erinnert an den ursprünglich als Gnome-2-Applet geschriebenen, inzwischen aber auch standalone verwendbaren DockbarX – und damit, sorry, liebe Linux-Orthodoxe, an die in meinen Augen sehr zweckmäßige Taskleiste von Windows 7. Nebenbei bemerkt: Den Microsoft-Kunden scheint die Oktroyierung eines völlig neuen, Geräte-übergreifenden Interfaces in Form des gekachelten Windows-8-Desktops ja erst noch bevorzustehen. Ubuntu-Nutzer haben das mit der ehemaligen Netbook-Oberfläche Unity schon hinter sich.

Zugegeben: So mächtig und flexibel wie DockbarX ist das Deepin-Dock (noch) nicht. An die Icons sollte man sich schnell gewöhnen, denn es werden keine Tooltips mit den Namen ungeöffneter Programme eingeblendet. Unschön ist, dass sich die Programm-Icons nicht per Drag-and-Drop umarrangieren lassen. Das wird hoffentlich bald behoben.

Weil das Dock ohnehin schon im Panel erscheint, braucht’s die angestammte Dash der Gnome-Shell nicht mehr. Konsequenterweise haben die Deepin-Entwickler sie entsorgt (ein Deaktivieren der Hide-Dash-Extension macht sie wieder sichtbar, dann aber am rechten Bildschirm-Rand). Was nicht heißt, dass die Gnome Shell versteckt würde: Ihre übrigen Vorteile – das dynamische Management beliebig vieler Arbeitsflächen, die lernfähige Live-Suche, die schon beim Eintippen der ersten Buchstaben Fundstellen präsentiert und dabei die Nutzerpräferenzen berücksichtigt (dafür habe ich früher das hübsche Tool Kupfer verwendet) – kann sie weiterhin ausspielen.

Ganz anders Cinnamon. Wo Deepin versucht, den User mit Gnome 3 zu versöhnen, unternimmt die Zimt-Shell alles, um Gnome 3 zu verleugnen. Das schon länger bekannte, dem Windows-Startmenü nachempfundene Mint-Menü übernimmt fast alle Funktionen, die bei Gnome 3 das Bildschirm-füllende Overlay erledigt: Suchen, Favoriten-Liste, Anwendungs-Menü. Auch das Mint-Menü bietet eine Live-Suche, die inzwischen offenbar den Haupt-Kritikpunkt aller Tastatur-Jockeys abgelegt hat: Die Suche lässt sich ganz ohne Maus-Einsatz nutzen; als ich das Mint-Menü ausprobierte (und flink wieder aus meiner Installation der Linux Mint Debian Edition, kurz: LMDE, entfernte, zumal das Python-Programm verschwenderisch mit RAM-Speicher umging), war immer mindestens ein Maus-Klick notwendig.

Bleibt nur noch die Arbeitsflächen-Übersicht. Selbst die sieht nicht mehr aus wie bei Gnome 3. Mint-Hauptentwickler Clement Lefebvre („Clem“) ist der Ansicht, dass die Gnome Shell den Nutzer mit dem automatisierten Arbeitsflächen-Management bevormundet. Deshalb hat er unter dem Namen Expo in Version 1.4 von Cinnamon einen neuen Arbeitsflächen-Umschalter in Compiz-Optik eingeführt. Ohnehin schreitet Cinnamon bei der Wiederherstellung des alten Gnome-2-Feelings (mehrere Panels, frei positionierbare Applets) von Version zu Version weiter voran. Damit empfiehlt sich Cinnamon für konsequente Gnome-3-Gegner, die wieder Kontrolle zurückgewinnen wollen, während Deepin einfach einen funktionellen Desktop bereitstellt, der keine freie Anordnung von Panels und Applets vorsieht.

Dafür bleibt Deepin nahe dran an der Entwicklung des Gnome-Projektes, während Cinnamon als Fork von Gnome 3 immer vom Fortgang der Mint-Distribution abhängig ist. In der Software-Entwicklung steht Fork für die Abspaltung eines Entwicklungszweiges: „Die Quelltexte oder Teile davon werden hierbei unabhängig vom ursprünglichen Mutterprojekt weiterentwickelt“ (Wikipedia). Die Frage ist, ob sich „Clem“ und das Mint-Projekt damit nicht zu viel zumuten, zumal sie sich immer weiter vom Original entfernen. Selbst den Fenster-Manager von Gnome 3 namens Mutter hat Mint geforkt: Muffin. Die Erfahrungen mit der Linux Mint Debian Edition (LMDE), deren Update Packs ein halbes Jahr lang versiegt waren (der neue Pack existiert inzwischen als Release Candidate), haben mich da skeptisch gemacht. Einen Milliardär wie Mark Shuttleworth bei Ubuntu hat Mint nicht im Hintergrund, und selbst das voll auf Unity fokussierte Ubuntu verfügt nicht über unbegrenzte Ressourcen, wie kürzlich der Rückzug aus Kubuntu (mit einem einzigen bezahlten Entwickler!) zeigte.

Für Mint spricht natürlich die wachsende Community, aber in dieser Hinsicht muss man auch Deepin ernstnehmen: Sechs 1,4 Milliarden Chinesen bieten für Linux ein riesiges Potential. Zu bedenken ist, dass – abgesehen von der bereits teils englischsprachigen Homepage – die Verkehrs-Sprache in den Deepin-Foren chinesisch ist; die Live-CD bietet nur die Wahl zwischen chinesisch und englisch; erst nach der nur wenige Minuten dauernden Festplatten-Installation kann man das System auf Deutsch umstellen.

Wem das nun zu chinesisch vorkommt, der kann auf seinem Original-Ubuntu-System (und vermutlich auch auf anderen Debian-Abkömmlingen) Gnome 3 installieren und dann die Deepin-Extensions nachladen. Die Pakete für deepin-gse (Deepin Gnome Shell Extensions) stehen alle zum Download bereit. Für andere, nicht auf deb-Paketen beruhende Distributionen wie Fedora empfiehlt es sich, die aktuelle Version der Extensions aus dem Git-Repository von Deepin herunterzuladen und mit Hilfe eines Shell-Scriptes zu installieren.

Auch Cinnamon lässt sich außerhalb seiner Stamm-Distribution installieren. Pakete und Installationshinweise stehen für diverse Distributionen zur Verfügung. Besonders leicht sollte die Umrüstung Ubuntu-Nutzern fallen: Sie brauchen lediglich ein eigenes PPA einzubinden. Mehr zum Thema PPA in meinem Ubuntu-Desktop-Artikel.

10 comments on “Linux Deepin vs. Cinnamon – Versöhnung oder Spaltung mit der Gnome Shell”

  1. Der geneigte Gnome 2 User nutzt den Gnome 3 Fallbackmodus mit Compiz und fragt sich, was der ganze Lärm wegen der Gnome 3 Shell soll….

  2. Gnome 3 Fallback = hoffnungslos kastriertes Gnome 2 ohne Applets. Der konservative Weg (damit meine ich im Gegensatz zu der in meinem Posting thematisierten Ver(schlimm?)besserung der Gnome Shell die Idee, beim Look and Feel des alten Gnome-2-Desktops zu bleiben) führt m.E. direkt zu XFCE. Das wird weiterentwickelt. Das lebt. Allerdings werden sich die Leutchen dort verschärft um den Wechsel von GTK2 zu GTK3 kümmern müssen, daran kommt man in der GTK-Welt nicht vorbei.

  3. Danke für den informativen Beitrag. Besonders die Möglichkeit, die Deepin-Extension unabhängig von der Distro zu installieren, finde ich spannend! Eine Frage habe ich dennoch:
    Wo zum Teufel hast Du denn die 6 Milliarden Chinesen getroffen? 😉

  4. Sechs Milliarden Chinesen?
    Sorry, aber China hat ca. 1.4 Milliarden Einwohner und nicht sechs Milliarden!

  5. Der Gnome 3 Fallback ist also kastriert? So etwas sagt nur jemand, der sich absolut gar nicht mit dem Fallbackmodus auseinandergesetzt hat. Der geneigte Nutzer möge einmal die alt-taste drücken (Metacity) bzw super + alt (Compiz) und dann einen Rechtsklick auf das obere oder untere Panel machen und siehe da: Von hoffnungslos kastriert kann nicht die Rede sein, so gut wie alle aus Gnome 2 bekannten Panel Applets sind da, man kann alles wie aus Gnome 2 gewohnt hinzufügen, entfernen und verschieben. Wenn man sich den Gnome 3 Fallbackmodus so betrachtet, verliert der Cinnamon Fork komplett seine Daseinsberechtigung, denn was macht es noch für einen Sinn, etwas unter der Gnome Shell mühsam in vielen Mannstunden nachzubauen, was schon längst existiert und einem darüber hinaus auch noch mehr Freiheiten, z.B. in der Wahl des Fenstermanagers (Compiz, Metacity, selbst KWin ist möglich) einräumt? Bei der Nutzung von Compiz kann man sich selbst die Anzahl der Workspaces festlegen und ist nicht durch den funktionsfreien Fenstermanager Metacity bzw dessen cinnamoneigenen Fork (Ja, noch mehr verschwendete Entwicklerstunden) Muffin auf lediglich 2 Workspaces beschränkt.
    By the way: XFCE ist kastriert, die Menüs sehen aus wie unter WIndows 3.1 und der fest eingebundene ‚Dateimanager‘ Thunar, der nicht mal über eine Dateisuche verfügt ist eine absolute Zumutung.
    P.S:
    Wem das alles nicht gefällt, der nimmt halt MATE, einen echten Fork von Gnome 2

  6. Fragt sich nur, wie lange noch. Als ich mir im Frühjahr mal SolusOS und Consort ansehen wollte, waren die Leutchen dort in heftigen Umzugs-Verwirrungen auf SolusOS 2, das sich offenbar von Debian verabschiedet hat, und haben sich mit dem Consort-Update auf GTK 3.sowienoch rumgeschlagen. Deshalb: Wie lange kann und will sich ein kleines Projekt diesen Aufwand noch leisten?

  7. Wie kann ich denn das Deepin-Linux auf deutsch umstellen?. Habe Sprach-Extensions und Deutsche Sprachpakete heruntergeladen, aber Deutsch bliebt als Sprache in der Auswahl hellgrau und ich kann es nicht auswählen.

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